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Heute ist ein ganz besonderer Tag, aber

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Berliner S-Bahn

…um das zu verstehen, muss ich erstmal auf die Berliner S-Bahn zu sprechen kommen. Die Ortsansässigen wissen es: es gibt vier spezielle Punkte im hauptstädtischen Liniennetz, und zwar jene, an denen das Achsenkreuz aus Nordsüdbahn und (ostwestlicher) Stadtbahn mit der Ringbahn zusammenstößt. Also wie wenn man ein “O” und ein “+” übereinanderschreibt – dann stößt das Pluszeichen mit seinen vier Enden ans O.

Die entsprechende Station im Westen heißt Westkreuz, die Station im Osten heißt Ostkreuz, die Station im Süden heißt Südkreuz, und die Station im Norden heißt… erraten: Gesundbrunnen.

So ungefähr ist es mit dem Kirchenjahr. Die Winter- und die Sommersonnwende sind durch die Geburtsfeste unseres Erlösers und Seines Vorläufers würdig markiert. Zur Frühjahrs-Tagundnachtgleiche feiern wir Mariä Verkündigung – braucht es doch einen dreiviertel Sonnenumlauf, neun Monate, um den Erlöser zur Welt zu bringen.

Was aber feiert die Kirche zur Herbst-Tagundnachtgleiche? Mein Schott sagt mir “Thomas von Villanova” sowie “Mauritius” für den 22. September, “Papst Linus” und “Thekla” für den 23. September sowie die “allersel. Jungfrau Maria von der Erlösung der Gefangenen” für den 24. September.

Da haben wir unseren Gesundbrunnen. Ebenso wie den meisten Lesern (machen Sie mit und gewinnen Sie!!) klar sein dürfte, wie der Gesundbrunnen logischerweise in Analogie zu West-, Ost- und Südkreuz heißen müsste, müssten wir am 23. September eigentlich “Empfängnis Johannis des Täufers” feiern. Die Liturgiereformer nach dem letzten Konzil wollten es damit gutmachen, dass sie die Namenstage von Zacharias und Elisabeth auf diesen Tag verlegten, aber das war wie üblich eine halbherzige Geschichte, ebensowenig könnte ein “Nordbrunnen” oder ein “Gesundkreuz” darüber hinwegtäuschen, dass an der Symmetrie der vier Himmelsrichtungen irgendwas faul ist. Korrekt feiern hingegen die östlichen Kirchen “Empfängnis Johannis des Täufers” (orthodoxe und armenische Kirche), “Verkündigung der Geburts Johannis des Täufers” (koptische Kirche) sowie “Verkündigung an Zacharias und Elisabeth” (syrisch-orthodoxe Kirche).

Da wir Westkirchler ein entsprechendes Fest nicht haben, muss ich also improvisieren, wie der korrekte lateinische Name des Fests lauten könnte.

“In Annuntiatione S. Zachariae” wäre eine Möglichkeit.

Ich möchte mich jedoch für eine andere entscheiden:

“In Conceptione S. Ioannis Baptistae”

Zacharias lauscht Gabriel

Conceptio heißt Empfängnis. Empfängnis ist etwas Passives. Maria tut nichts, als sie Jesus empfängt, sie spricht nur das fiat mihi – “mir geschehe nach deinem Wort”. Auch Zacharias tut nichts, als ihm die Geburt des Täufers verkündet wird, noch nichtmal redet er irgendetwas: er wird stumm. Und Elisabeth spricht, ganz ähnlich Maria, die Worte sic fecit mihi Dominus – “so hat der Herr an mir getan in den Tagen, als Er mich angesehen hat, um meine Schmach unter den Menschen von mir zu nehmen” (Lk 1, 25).

Ich kenne die Wortgeschichte von conceptio nicht genau. Ich weiß nicht, welche Windungen und Wendungen das Wort im Laufe der Jahrhunderte in den romanischen und germanischen Sprachen genommen hat. Ich weiß nur, dass es heute im Deutschen ein Wort gibt, das “Konzeption” heißt. Und das genaue Gegenteil von conceptio bedeutet.

Conceptio heißt Empfängnis. Konzeption heißt Planung. Conceptio ist passiv. Konzeption ist aktiv. Wie absurd mutete es an, würde man das heutige Nichtfest ins Deutsche übersetzen als “Konzeption des Hl. Johannis des Täufers”! Ist damals wohl in Nazareth und im Bergland von Judäa ein zwanzigköpfiges Gremium zusammengekommen, um die Erlösung der Welt mittels Johannes und Jesus in aufreibenden Mammutsitzungen detailliert zu konzipieren? – Nein, nur ein stummer Priester und zwei Frauen, die “mir geschehe” und “mir ist getan worden” brabbeln… und gerade deshalb, weil diese Menschen nichts von sich selbst dazutaten, sondern in ihrem Herz völlig offen waren für das Wirken Gottes, hat es mit der conceptio des Heils geklappt – unendlich viel besser als jede Konzeption des Heils jemals klappen könnte.

*

Heute ist ein ganz besonderer Tag, das würden viele unterschreiben. Aber nicht, weil wir heute die conceptio des Vorläufers nichtfeiern, sondern weil am soeben zuendegegangenen Tag in unserem Land die Konzeption der nächsten vier Jahre stattgefunden hat. Das Wort “historisch” ist dabei einige Male gefallen.

Es gab einen schönen Moment für mich an diesem Tag. Das war, als ich um 18:45 Uhr den Livestream abschaltete, um in die Abendmesse zu gehen.

Ansonsten: je nun. Vielleicht ist es historisch, dass die Gelben zum ersten Mal seit einem Zwanzigstelmillenium nicht der Volksvertretung angehören. Vielleicht ist es historisch, dass die Muttipartei fast eine absolute Mehrheit geholt hätte – dem neobourgeoisen Zeitgeist entspricht es jedenfalls vollkommen. Vielleicht ist es historisch, dass beinahe eine neue Partei in die Volksvertretung eingezogen wäre. Vielleicht ist es tragisch, dass sie es so knapp nicht geschafft hat. Vielleicht hätte ihr meine Stimme, die ich nicht abgegeben habe, dabei helfen können. Vielleicht ist es aber auch nur beschämend, dass unser Land selbst diesmal, da diese Wirtschaftsprofessorenpartei während des letzten halben Jahrs in der mit Tretminen reichlichst gespickten Zone rechts der Muttipartei fast traumwandlerisch fehlerfrei navigiert ist – dass unser Land es selbst diesmal nicht geschafft hat, mittels der vielgepriesenen Demokratie eine Alternative zum zeitgeistigen Einheitsblock zu installieren.

Vieles mag historisch gewesen sein am eben vergangenen Tag.

Am Ende steht: die große Koalition.

Maria, Elisabeth, Josef und Zacharias waren keine Wirtschaftsprofessoren und keine mächtigen Staatslenker. Zacharias, der Priester, war wahrscheinlich der gebildetste von ihnen, und doch ging er nicht als brillianter Theologe in die Geschichte ein. Wenn wir heute noch von Zacharias reden, dann nicht wegen seiner Worte und nicht wegen seiner Taten – sondern wegen seines Schweigens. Wortlos hat er sein Herz für das Heil geöffnet. Und an diesem Tag, da er stumm wurde, heute vor mehr als zweitausend Jahren in einem Dorf in Judäa, dessen Namen wir nicht kennen: da begann etwas, das noch historisch – und überhistorisch – sein wird, wenn niemand mehr über 4,9% redet.

Niemand nannte damals den Tag historisch.

Am Ende stand: Die Erlösung der Welt.


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