…setzt sich mal wieder über eine der ältesten kirchlichen Traditionen hinweg.
Karl der Große – der diese Tradition nicht etwa erfunden hat – schreibt anno 782:
Wenn jemand Zuflucht in der Kirche sucht, soll er dort bis zu seiner Gerichtsverhandlung sicher sein, und niemand soll wagen, ihn mit Gewalt herauszuholen. Wegen der Ehre Gottes und der Heiligen, denen die betreffende Kirche geweiht ist, soll es dem Asylanten vor Gericht nicht an Kopf und Kragen gehen, sondern er soll seine Tat gemäß dem Urteilsspruch mit Geld büßen, soweit er es kann. Dann soll er vor den König geführt werden, und der wird ihn dorthin stecken, wohin es seiner königlichen Gnade gefällt.
Sterben soll, wer gewaltsam eine Kirche erstürmt und in ihr mit Gewalt oder mit Diebsgriff etwas wegnimmt.
Der Gedanke dahinter ist ganz einfach. Genauergesagt, er ist zweifach:
1. In ethischer und theologischer Hinsicht geht es darum, dass nicht der Hass über die Liebe und nicht das Gesetz über die Gnade triumphieren soll. “Ich werfe nicht weg die Gnade Gottes; denn wenn die Gerechtigkeit durch das Gesetz kommt, so ist Christus vergeblich gestorben”, schreibt der Hl. Paulus (Gal 2, 21). Das Gesetz kann uns nicht retten, denn niemand kann das Gesetz aus eigener Kraft erfüllen. Nur Christus, der menschgewordene Gott, konnte es: er kam, wie Matthäus schreibt, nicht, “das Gesetz oder die Propheten aufzulösen, sondern zu erfüllen” (5, 17). Die bedingungslose Ausgießung der göttlichen Gnade durch den menschgewordenen Gottessohn ist das Einzigartige und Unvergleichliche am Christentum. “Das Gesetz ist durch Mose gegeben; die Gnade und Wahrheit ist durch Jesus Christus geworden”, schreibt Johannes in seinem berühmten Prolog zum Evangelium (1, 17). In der Menschwerdung Gottes ist die Gnade des Herrn für alle Welt sichtbar geworden: “Er hat unter uns gewohnt, und wir haben Seine Herrlichkeit gesehen, eine Herrlichkeit als des eingeborenen Sohnes vom Vater, voller Gnade und Wahrheit. (…) Und von Seiner Fülle haben wir alle genommen Gnade um Gnade” (1, 14-16).
Die Gnade Gottes ist bis heute in der Kirche gegenwärtig: in den Sakramenten, in den Kirchenbauten, in den Heiligen, im Gebet. Wer sich unter den Schutz dieser Gnade begibt, auf den soll das längst besiegte Gesetz keinen Zugriff haben, egal was er gefrevelt haben mag: denn jedwedes Gesetz – sei’s das alttestamentarische Gesetz des Mose, sei’s das weltliche Gesetz unserer heutigen Staaten – ist nur ein Provisorium. Die göttliche Gnade ist größer. Die Gnade besiegt das Gesetz, die Liebe besiegt den Hass: das ist die theologische und die ethische Grundbotschaft des Evangeliums.
2. In ritueller Hinsicht geht es darum, nicht gegen Gott zu freveln. Wer sich unter den Schutz Gottes begibt, begibt sich in Seinen Machtbereich. Gott könnte den Verbrecher, der in einer Kirche Zuflucht sucht, sogleich tot umfallen oder vom Blitz erschlagen lassen. Wenn Er das nicht tut, steht es uns nicht zu, es besser zu wissen als der Allmächtige. In den alten Zeiten, wo Gott noch sichtbarer als heute auf der Erde gewirkt hat, war das ganz offensichtlich. Als David, die alttestamentarische Präfiguration Christi, vor Saul floh, der ihn verfolgte, flüchtete er sich zum Propheten Samuel. Er konnte sich nicht in den Tempel flüchten, den gab es nämlich noch gar nicht: so stellte der Gottesmann Samuel einen vergleichbaren Bezirk der Heiligkeit dar. Wenn der große Samuel David, der sich ihm unterwarf, nicht verdammte, wenn der allmächtige Gott David nicht tot umfallen ließ, wie hätte es dann Saul wagen können, ihn zu erschlagen?
Dennoch versuchte er es:
Da sandte Saul Boten, um David zu holen. Und sie sahen die Schar der Propheten in Verzückung und Samuel an ihrer Spitze. Da kam der Geist Gottes auf die Boten Sauls, sodass auch sie in Verzückung gerieten. Als das Saul angesagt wurde, sandte er andere Boten; die gerieten auch in Verzückung. Da sandte er die dritten Boten; die gerieten auch in Verzückung. Da ging er selbst nach Rama. Und als er zum großen Brunnen kam, der in Sechu ist, fragte er: Wo sind Samuel und David? Da wurde ihm gesagt: Siehe, zu Najot in Rama. Und er machte sich von dort auf nach Najot in Rama. Und der Geist Gottes kam auch über ihn und er ging einher in Verzückung, bis er nach Najot in Rama kam. Da zog auch er seine Kleider aus und war in Verzückung vor Samuel und fiel hin und lag nackt den ganzen Tag und die ganze Nacht. Daher sagt man: Ist Saul auch unter den Propheten? (1. Sam 19, 20-24)
Wer versucht, Selbstjustiz an jemandem zu üben, der im Machtbereich Gottes steht, auf den wird diese Justiz selbst zurückfallen. Im besten Fall prallt er an den Schutzmauern der Heiligkeit einfach ab, wie es Saul widerfuhr. Es ist zwecklos und frevelhaft, sich gegen Gott aufzulehnen. Selbst der oberste der Engel tut es nicht. Stattdessen trägt er die Unvergleichlichkeit Gottes im Namen: Michael – Wer ist wie Gott?
Jahrtausendelang war den Menschen das offensichtlich. Viele Jahrhunderte lang, während des gesamten christlichen Mittelalters, war es auch offiziell tabu, das Kirchenasyl zu verletzen und Kirchen durch weltliche Gewalt zu stürmen. Und noch Jahrhunderte später blieb es, wenn auch nicht mehr offiziell verbrieft, ein weithin geübter Brauch.
Noch im Winter 1990 gewährte der Pfarrer Uwe Holmer zwei Verbrechern der besonderen Art Asyl: Erich und Margot Honecker. Pfarrer Holmer war keineswegs ein christlicher Sozialist oder ein zartroter Opportunist gewesen. Mit 15 weigerte er sich, der SS beizutreten, ein paar Jahre später lehnte er den Beitritt zur FDJ ab. 1953 ließ er Eltern und Geschwistern alleine in den Westen flüchten, denn: “Hier im Osten werden Pastoren gebraucht”. Er predigte gegen die deutsche Teilung, weigerte sich, in der “Aktuellen Kamera” den Arbeiter- und Bauernstaat zu loben. Er hatte zehn Kinder, doch keines davon durfte studieren. Verantwortlich dafür: die Ministerin für Volksbildung, Margot Honecker.
Sie und ihren Mann nimmt er Ende Januar 1990 in sein Haus auf. Die Honeckers haben mit der Wende ihre Wohnung verloren, niemand will sie aufnehmen, sie laufen Gefahr, von der Bevölkerung gelyncht zu werden. Nachdem Pfarrer Holmer ihnen Asyl gewährt, bekommt er selbst Morddrohungen. Das ficht ihn nicht an: “Wir können doch nicht im Vaterunser beten ‘Vergib uns unsere Schuld, wie auch wir vergeben unseren Schuldigern’, und dann nicht danach leben.”
Hier sehen wir einen großen Menschen, einen Mann voller Heiligkeit, wie einst den Propheten Samuel. Die Gnade des Evangeliums besiegt das Gesetz. Niemand konnte die Honeckers vor ihren Feinden schützen als der, den sie für ihren ärgsten Feind hielten: Jesus Christus in Gestalt Seines Dieners Uwe Holmer. Und am Ende der Zeiten wird Gott selbst das tun, was keinem Lynchmob zusteht: Er wird über Erich und Margot Honecker richten.
Nach all diesen großen Gestalten – Samuel, David, Karl, Holmer – ist es nun leider fast ein Stilbruch, auf die Allerkatholischste Bayerische Staatsregierung zurückzukommen. Es muss aber sein. Denn was lässt das bayerische Innenministerium dieser Tage verlauten? – “Kirchenasyl findet keine Anerkennung in unserer Rechtsordnung. Auch die Kirchen sind an die geltenden Gesetze gebunden.”
Der allerkatholischste Innenminister Joachim Herrmann ist unter anderem Mitglied der allerkatholischsten Studentenverbindung Frankonia Czernowitz und im Ritterorden vom Heiligen Grab zu Jerusalem. Er hat aber kein Problem damit, wenn eine Familie, die in einer Augsburger Kirche Zuflucht gesucht hat, von der Polizei abgeholt wird – gegen den Willen des Pfarrers, der körperlichen Widerstand hätte leisten müssen, um die Polizei zu stoppen (was er nicht getan hat – ob zu Recht oder zu Unrecht, sei dahingestellt).
Ob Minister Herrmann schonmal den Johannesprolog oder den Galaterbrief gelesen hat, weiß ich nicht. Ob ihm bekannt ist, was sich einst zu Najot in Rama abgespielt hat, wage ich zu bezweifeln. Dass er Pfarrer Holmers wahrhaft christliches Asyl für den Diktator und seine Frau damals missbilligt hat, bin ich mir fast sicher.
Man ist eben nur katholisch, wenns einem passt. Willkommen in der CSU. Siehe auch: Alois Glück.
Der Herr aber wird nicht nur die Honeckers, sondern auch die Glücks und die Herrmanns dereinst richten. Und wehe, wer gewogen und zu leicht befunden wird.