Morgen schreiten die Schotten zur Abstimmung, und obwohl es im Moment nach einem Kopf-an-Kopf-Rennen aussieht, könnte ich mir vorstellen, dass das Ergebnis unerwartet deutlich zur einen oder zur anderen Seite ausschlagen wird.
Das dürfte dann wohl daran liegen, dass der Ernstfall den unverbindlichen Umfragen doch völlig inkommensurabel ist – dass in diesem Moment der Wähler in aller Einsamkeit vor dem Wahlzettel steht wie der Gläubige vor dem Ganz Anderen Gott und sich entscheiden muss – in diesem und keinem anderen Augenblick: Sage ich JA zu Ihm oder nicht?
Ich kann mir zwei Mechanismen vorstellen, die in der Einsamkeit der Wahlkabine ablaufen:
1. Jemand, der aus pragmatischen Gründen immer skeptisch war, sagt sich: “Hier stehe ich nun und muss eine Entscheidung für Jahrhunderte treffen. Diese Chance wird niemals wiederkommen. Mein Herz schlägt für ein freies Schottland – was sind dagegen meine kleinen, weltlichen Zweifel? Was gelten sie vor meinen Urenkeln? Hier stehe ich, und niemand sieht mich als Gott und der Stimmzettel: ich stimme für JA.”
2. Jemand, der immer wohlwollend von der Unabhängigkeit geredet hat, sagt sich: “Hier stehe ich nun und muss eine Entscheidung treffen. Ich habe eine Familie, ich habe Kinder, ich habe Angestellte, ich habe Verantwortung. Was gelten meine romantischen Träume vor der Sorge für meine Nächsten? Bin ich feige, nur weil ich an meine Lieben denke? Hier stehe ich, und niemand sieht mich als Gott und der Stimmzettel: ich stimme für NEIN.”
Die beiden Mechanismen verraten grundlegend andere Geisteshaltungen und haben doch beide ihren Rückhalt im Evangelium. Denn zum einen sagt Christus:
“Wer seine Hand an den Pflug legt und sieht zurück, der ist nicht geschickt für das Reich Gottes.” (Lk 9, 62)
“Darum sollt ihr nicht sorgen und sagen: Was werden wir essen? Was werden wir trinken? Womit werden wir uns kleiden? Nach dem allen trachten die Heiden. Denn euer himmlischer Vater weiß, dass ihr all dessen bedürft.” (Mt 6, 31f.)
Zum anderen aber mahnt Er:
“Denn wer ist unter euch, der einen Turm bauen will und setzt sich nicht zuvor hin und überschlägt die Kosten, ob er genug habe, um es auszuführen, – damit nicht, wenn er den Grund gelegt hat und kann’s nicht ausführen, alle, die es sehen, anfangen, über ihn zu spotten, und sagen: Dieser Mensch hat angefangen zu bauen und kann’s nicht ausführen?” (Lk 14, 28)
Auch wenn sich alle Zitate auf die Nachfolge Christi beziehen, durchwirken sie doch – wie die Nachfolge Christi eben auch – das ganze Leben. Sie bezeichnen den Grundwiderspruch unserer irdischen Existenz: das Reich Gottes ist angebrochen – aber erst im Verborgenen. Sorglosigkeit ist richtig, denn Gott ist mit uns. Sorglosigkeit ist falsch, denn wir leben noch auf Erden. Sorge ist richtig, denn wir leben noch auf Erden. Sorge ist falsch, denn Gott ist mit uns.
Eine Lösung des Dilemmas gibt es nicht. Nicht in dieser Welt. Wir müssen jeden Tag wagen und sorgen und darauf hoffen, dass der Heilige Geist uns anleitet, was wann am Platz ist.
Morgen entscheiden sich die Schotten zwischen Wagen und Sorgen. Eine Wahlempfehlung kann man aus christlicher Sicht kaum aussprechen. Ich persönlich würde wagen. Doch wer weiß, was Gott für richtig hält?