Das Christentum lehrt die Überlegenheit Gottes. Wir Menschen sind kleine Sünder, Gott allein kann uns retten, Er ist Mensch geworden, kleiner als wir alle, und zieht uns durch Sein Selbstopfer mit Sich wieder hinauf in den Himmel. Gott ist überlegen, und doch sind wir von Anfang an als Gottes Ebenbild geschaffen, und wir bleiben es, auch wenn die Ebenbildlichkeit durch den Sündenfall verdunkelt ist, und wir werden Gott einst im Paradies wieder von Angesicht zu Angesicht schauen. Gott ist uns überlegen, und dennoch haben wir durch unsere Gottesebenbildlichkeit an Gottes Größe und Würde teil. Jeder von uns. Ohne Unterschiede.
Die postchristlichen Ideologien des 20. Jahrhunderts haben eine andere Überlegenheit gelehrt. Die Überlegenheit der Rasse, die Überlegenheit der Klasse, die Überlegenheit des Wahlsystems. Diese neuen Überlegenen waren weniger gnädig als Gott. Wer vom überlegenen System abgefallen ist, der verlor seine Würde sofort und vollständig. Den Juden, den Bonzen, den Nazi behandelten die nationalsozialistischen, die kommunistischen und die demokratischen Ideologiesysteme so grausam und unnachsichtig, wie es Gott mit dem gefallenen Menschen niemals in den Sinn gekommen wäre.
“Der Führer schützt das Recht”, titelte Carl Schmitt 1934. Wo es außerhalb der Ideologie kein Recht gibt, verliert der Feind der Ideologie jeglichen Schutz und jegliche Würde. Nationalsozialismus und Stalinismus haben von diesem Freibrief ausgiebig Gebrauch gemacht. Und leider macht auch die Demokratie zunehmend von ihm Gebrauch – wenn sie auch zu subtileren Mitteln greift als zu Schauprozessen und Vernichtungslagern.
In diesen Tagen konnten wir den dreifachen Verlust des Rechts für jene erleben, die aus dem System auszuscheren wagen. Und bezeichnenderweise gehen alle drei Entrechtungen vom Mutterland der Demokratie, den USA, aus.
1. Die Entrechtung des Kriegsgegners erleben wir schon seit längerer Zeit. Es gibt keine Kriegserklärungen mehr, das Kriegsrecht hat gegenüber Islamisten und anderen Feinden des Systems keine Gültigkeit, Willkür ist legitim und geboten.
2. Die Entrechtung des Privatmanns ist durch die NSA-Affäre wieder von neuem ins Blickfeld geraten. Aktuell kann man lesen, das FBI habe zehntausende private Rechner gehackt, ohne jeden konkreten Verdachtsmoment, lediglich weil auf ihnen eine Anonymisierungssoftware lief. Wer nicht alle seine Daten bereitwillig an den Staat liefert, ist ein Feind des Systems, gegen ihn müssen keine rechtlichen Grundsätze mehr eingehalten werden. Und wer diese Praktiken aufdeckt, dem wird ohne Rechtsgrundlage der Pass entzogen, sodass er wochenlang am Moskauer Flughafen festsitzt.
3. Die Entrechtung des Kriminellen (oder des Justizopfers) hat jüngst Gustl Mollath angeprangert. Er bezeichnet die psychiatrischen Kliniken als “rechtsfreien Raum”, in dem “der größte Teil der Menschen auf Gedeih und Verderb den Ärzten und dem Personal ausgeliefert” ist. Dies ist die perfideste aller Entrechtungen. Der Gegner des Systems ist einfach – krank. Hier wird dem Feind sogar sein vollwertiges Menschsein abgesprochen. Erst neulich konnte ich irgendwo in einem Internetkommentarbereich lesen, Sören Kierkegaard sei zu bemitleiden gewesen, er sei psychisch stark beeinträchtigt gewesen und hätte eigentlich einer Behandlung mit Tabletten bedurft. Dasselbe ließe sich wahrscheinlich über viele unserer Kulturschaffenden sagen. Plato sprach noch vom “heiligen Wahnsinn”, der am Anfang aller Dichtkunst stünde. Heute stellt man den Wahnsinnigen mit Tabletten ruhig.
Der Fall Mollath ist eine deutsche, keine amerikanische Angelegenheit – und doch wurzelt der unheilige Wahnsinn der Tabletten ebenfalls jenseits des großen Teichs. Dieser Artikel und das zugehörige Video über den Zusammenhang von Amokläufen und Psychopharmaka haben mich vor einiger Zeit gehörig schockiert. Ich habe ein einziges Mal in meinem Leben ein Antidepressivum geschluckt und mir geschworen, das nie wieder zu tun. Ich war 24 Stunden lang ein völlig anderer Mensch, mit nur noch eingeschränkter Persönlichkeit, nur noch diffusen Emotionen, nur noch diffuser Wahrnehmung der Welt.
Psychopharmaka, Psychiatrie, ärztlicher Psychoterror sind keineswegs die Lösung, sondern das Problem. Im christlichen Mittelalter konnte man Narren, Irre, Spinner dulden. Man mag über sie gelacht haben, aber sie blieben Menschen, geschaffen nach Gottes Bilde. Heutzutage ist nur noch Mensch, wer nicht vom Baum des Systemfeinds gekostet hat, wer nicht abgefallen ist. Alle anderen dürfen weggebombt, ausgespäht, mit Tabletten betäubt werden. Eine traurige Welt.