Gleich vorweg: ich finde die Friedenspreisverleihung an Schulen, die die Bundeswehr aussperren, genauso erbärmlich wie einst die Aktionen “Kein Ort für Nazis” oder “Kauft nicht bei Juden”. Wo immer Menschen meinen, auf der moralisch besseren Seite zu stehen, indem sie das Gespräch mit anderen Menschen verweigern, ist gewaltig was schiefgelaufen. Insofern begrüße ich das Engagement von Elsa und anderen gegen die diesjährige Verleihung des Aachener Friedenspreises prinzipiell ganz klar.
Allerdings: Die Argumentationslinien, die sich insbesondere im anschließenden Kommentarbereich zeigen, kann ich nicht teilen. Hier wird das Kind mit dem Bade ausgeschüttet. Vor allem zwei mehrmals auftauchende Aussagen sind es, denen ich energisch widersprechen muss.
1. Christus hat nie Soldaten verurteilt. – Das ist richtig. Christus hat auch nie Huren und Zöllner verurteilt. Auch die Ehebrecherin hat Er nicht verurteilt. Es war generell nicht Seine Art, Menschen zu verurteilen, weil sie Unrecht begangen hatten. Doch das heißt nicht, dass Er ihre Fehler gutgeheißen hätte. Er hasste die Sünde und liebte den Sünder. “Geh hin und sündige hinfort nicht mehr”, sprach Er immer wieder. Erst wenn der Mensch dieses Angebot ausschlug, wenn er gar leugnete, überhaupt Sünder zu sein und sich für besser hielt als andere, wie die Pharisäer und Schriftgelehrten, dann wurde er von Christus verurteilt.
2. Töten im Krieg ist keine Sünde. Das fünfte Gebot heißt “Du sollst nicht töten”, gemeint ist aber “Du sollst nicht morden”. – Auch das ist zweifellos richtig. Das fünfte Gebot bezieht sich weder auf das Töten im Krieg noch auf das Töten von Tieren. Dafür benutzte man im Hebräischen andere Wörter. Genausowenig allerdings bezieht sich das fünfte Gebot überhaupt auf uns. Die Zehn Gebote sind Teil des alttestamentlichen Gesetzes. Wir stehen nicht mehr unter diesem Gesetz. Christus hat das Gesetz erfüllt und gleichzeitig radikalisiert. In der radikalisierten Version klingt das fünfte Gebot so:
Ich aber sage euch, dass ihr nicht widerstreben sollt dem Übel, sondern: wenn dich jemand auf deine rechte Backe schlägt, dem biete die andere auch dar. Und wenn jemand mit dir rechten will und dir deinen Rock nehmen, dem lass auch den Mantel. Und wenn dich jemand nötigt, eine Meile mitzugehen, so geh mit ihm zwei. (…) Liebt eure Feinde und bittet für die, die euch verfolgen, damit ihr Kinder seid eures Vaters im Himmel. (…) Denn wenn ihr liebt, die euch lieben, was werdet ihr für Lohn haben? Tun nicht dasselbe auch die Zöllner? Und wenn ihr nur zu euren Brüdern freundlich seid, was tut ihr Besonderes? Tun nicht dasselbe auch die Heiden? (Mt 5, 39-47)
Die Christenheit hat eine große und beschämende Tradition, die Bergpredigt kleinzureden. Denn jeder Christ erlebt ständig, wie er an den übermenschlichen Forderungen Christi scheitert. Und genauso, wie mancher, der einst felsenfest für die Unauflöslichkeit der Ehe eintrat, in dem Moment davon abrückt, wo seine eigene Ehe scheitert, können viele den Widerspruch zwischen dem Anspruch Christi und dem eigenen Scheitern nicht aushalten. Sie schaffen nicht, das Paradoxon zu ertragen, das einst der Vater des besessenen Knaben aussprach: “Ich glaube; hilf meinem Unglauben!” (Mk 9, 24). So erfanden sie diverse Konstrukte, um die Forderungen der Bergpredigt zu zähmen.
Besonders beliebt im katholischen Bereich ist die Behauptung, sie beziehe sich nur auf Priester und Ordensleute. Bei Elsa geht das sogar so weit, dass sie verkündet, als katholische Laiin gar nicht in der Christusnachfolge zu stehen. Doch Christus verkündigt die Bergpredigt “seinen Jüngern” (Mt 5, 1). Matthäus schreibt nichts darüber, die Bergpredigt sei exklusiv den Zwölfen offenbart worden, wie die Einsetzung der Eucharistie, oder gar nur den Dreien, wie die Verklärung auf dem Tabor. Als Christus die gleichen Inhalte bei anderer Gelegenheit auf dem Felde predigt, hören ihn sogar “eine große Schar seiner Jünger und eine große Menge des Volkes aus ganz Judäa und Jerusalem und aus dem Küstenland von Tyrus und Sidon” (Lk 6, 17). Die Bergpredigt geht alle an. Und alle, ob Priester oder Laien, scheitern an ihr.
Im protestantischen Bereich hat man sich ein anderes Konstrukt zurechtgelegt. Es nennt sich “Amt”. Die Bergpredigt gelte demnach nur für Privatpersonen, Inhaber öffentlicher Ämter müssten sich nicht daran halten. Somit war auch der Krieg legitim. Einer der wenigen, die explizit gegen dieses Konstrukt Stellung beziehen, ist Dietrich Bonhoeffer. In seinem Buch “Nachfolge” von 1937, einer Auslegung der Bergpredigt, schreibt er:
Jesus aber ist diese Unterscheidung zwischen mir als Privatperson und als Träger des Amtes als maßgeblich für mein Handeln fremd. Er sagt uns darüber kein Wort. Er redet seine Nachfolger an als solche, die alles verlassen hatten, um ihm nachzufolgen. (…) In der Tat ist ja die genannte Unterscheidung einer unlösbaren Schwierigkeit ausgesetzt. Wo bin ich im wirklichen Leben nur Privatperson, wo nur Amtsträger? Bin ich nicht, wo immer ich angegriffen werde, zugleich der Vater meiner Kinder, der Prediger meiner Gemeinde, der Staatsmann meines Volkes?
Bonhoeffer, der ja durchaus nicht in bequemen Friedenszeiten lebte, nimmt die Bergpredigt ernst und wendet sie auch auf den Krieg an. Auch er setzt dafür im Alten Bund an:
Es gibt im Alten Testament nirgends einen Satz, der den Feindeshass geböte. (…) Aber Jesus spricht hier von keiner natürlichen Feindschaft, sondern von der Feindschaft des Gottesvolks gegen die Welt. Die Kriege Israels waren die einzigen “heiligen” Kriege, die es in der Welt gab. Sie waren die Kriege Gottes gegen die Götzenwelt. Jesus verurteilt diese Feindschaft nicht, er müsste ja sonst die Geschichte Gottes mit seinem Volk verurteilen. Vielmehr bejaht Jesus den Alten Bund. Es geht auch ihm allein um die Überwindung der Feinde, um den Sieg der Gemeinde Gottes. Aber er löst mit seinem Gebot abermals seine Jüngergemeinde aus der politischen Gestalt des Volkes Israel. Damit gibt es keine Glaubenskriege mehr, damit hat Gott die Verheißung des Sieges über den Feind in die Feindesliebe gelegt.
Bonhoeffer weiß: die Feindesliebe geht dem natürlichen Menschen “über die Kraft, sie verstößt gegen seinen Begriff von Gut und Böse”. Doch das ist kein Grund, sie nicht ernstzunehmen. Es ist vielmehr ein Grund, das Unglaubliche zu denken:
Wer von uns darf denn sagen, dass er wüsste, was es für die Welt bedeuten könnte, wenn ein Volk – statt mit der Waffe in der Hand – betend und wehrlos und darum gerade bewaffnet mit der allein guten Wehr und Waffen den Angreifer empfinge?
Dieser Satz erinnert an einen anderen:
Stecke dein Schwert an seinen Ort! Denn wer das Schwert nimmt, der soll durchs Schwert umkommen. Oder meinst du, ich könnte meinen Vater nicht bitten, dass er mir sogleich mehr als zwölf Legionen Engel schickte? (…) Wäre mein Reich von dieser Welt, meine Diener würden darum kämpfen, dass ich den Juden nicht überantwortet würde; nun aber ist mein Reich nicht von dieser Welt. (Mt 26, 52f. / Joh 18, 36)
Es war damals nur ein einzelner Mensch, der ungeteilte Feindesliebe übte und Seinen Feinden “betend und wehrlos” gegenübertrat. Doch was das für die Welt bedeutete, wissen wir seit 2000 Jahren. Christi Opfertod ist der Quell aller Feindesliebe. Und gleichzeitig ist dieser Opfertod unser Trost, wenn wir täglich erleben, wie wir an der Feindesliebe scheitern: denn so groß war das Liebesopfer Christi, dass es ausreicht, um uns Sünder mitzuerlösen.
Auch Soldaten, auch kriegführende Staatsmänner scheitern immer wieder an der Feindesliebe. Deswegen sind sie keine schlechteren oder besseren Menschen als alle anderen. Doch das heißt noch lange nicht, dass mit dem Krieg alles in bester Ordnung ist. Es heißt noch lange nicht, dass wir nicht jeden Tag wieder neu danach streben sollen, Adam zu ersäufen und Christus in uns wachsen zu lassen. Den Feind zu lieben, anstatt uns an tote Gesetze zu klammern.
Wer anfängt, es sich in dieser Welt und in seinem irdischen Leben bequem einzurichten, hat schon verloren. Wer wie Elsa im Brief an den Bischof damit argumentiert, “dass der Text des Grundgesetzes das Wort ‘Streitkräfte’ insgesamt 18 Mal erwähnt, und zwar in unterschiedlichen Artikeln”, der scheint vergessen zu haben, dass diese Welt in Schall und Rauch vergehen wird. Wer sein Herz an diese Welt hängt, wird jene verlieren. Wer aufhört, daran zu glauben, dass die Liebe Gottes das Unglaubliche – das betende, waffenlose Volk im Angesicht seiner Feinde – bewirken kann, der leugnet die Größe Gottes. Wer meint, unsere irdischen Kompromisse, die Zeugnisse unseres ständigen menschlichen Scheiterns, seien eine gottselige Einrichtung, der gleicht den Schriftgelehrten und Pharisäern, die auch meinten, ihr Leben sei in bester Ordnung.
Nein.
Unser Leben, unsere Gesellschaft ist nicht in Ordnung. Wir sind Sünder, die Menschheit ist gefallen. Der Krieg ist eine Erfindung des Teufels. Nicht durch Waffen, sondern nur durch die Liebe Gottes kann er überwunden werden.